Mehr Demokratie wagen: Warum Offene Listen und Vorwahlen unsere Politik verändern könnten
Die Art und Weise, wie wir in Deutschland wählen, ist tief in unserem politischen System verankert. Wir wählen Parteien und Direktkandidaten. Doch abseits des Wahlakts selbst entscheiden oft nur wenige Funktionäre darüber, wer überhaupt auf den Listen steht und somit eine realistische Chance auf ein Mandat hat.
Das Prinzip der Offenen Listen und die Etablierung von Vorwahlen könnten diese Dynamik grundlegend ändern. Sie sind mehr als nur technische Reformen; sie sind ein Plädoyer für mehr Wählerpartizipation und eine stärkere Rechenschaftspflicht der Abgeordneten gegenüber den Bürgern statt nur gegenüber der Partei.
1. Die Machtverschiebung: Was sind Offene Listen?
Wir kennen in Deutschland überwiegend das System der Geschlossenen Listen. Das bedeutet: Die Reihenfolge der Kandidaten auf der Landesliste einer Partei wird von den Delegierten oder dem Parteivorstand festgelegt. Wenn Sie als Wähler die Partei X wählen, bestimmen Sie automatisch auch die von der Partei festgelegte Priorität der Kandidaten.
Offene Listen hingegen brechen diese starre Hierarchie auf. Sie erlauben es den Wählern, durch eine Präferenzstimme (oder Kumulieren/Panaschieren) die tatsächliche Rangfolge der Kandidaten zu beeinflussen.
Der Unterschied im Detail:
| Merkmal | Geschlossene Liste (Deutschland, überwiegend) | Offene Liste (z.B. Österreich, Finnland) | 
|---|---|---|
| Listenzusammenstellung | Partei bestimmt die feste Rangfolge. | Partei stellt die Liste, aber der Wähler entscheidet über die Rangfolge. | 
| Rechenschaftspflicht | Kandidaten sind primär dem Parteiapparat verpflichtet. | Kandidaten müssen die Wähler direkt überzeugen. | 
| Wirkung der Wählerstimme | Stimme = Wahl der Partei + deren vordefinierter Rangliste. | Stimme = Wahl der Partei und des bevorzugten Individuums. | 
Der große Vorteil: Bei Offenen Listen kann ein populärer, gut arbeitender Kandidat, der von der Parteiführung vielleicht nur auf Platz 10 gesetzt wurde, durch genügend Präferenzstimmen auf Platz 1 vorrücken und somit einen sicheren Sitz erobern. Das zwingt Politiker, stärker auf ihre Wählerbasis zu hören als nur auf die internen Parteigranden.
2. Die Auswahl der Besten: Die Rolle der Vorwahlen
Bevor eine Liste überhaupt offen oder geschlossen sein kann, muss entschieden werden, wer daraufsteht. Hier kommen die Vorwahlen (Primaries) ins Spiel.
In vielen politischen Systemen (am bekanntesten in den USA, aber auch in Frankreich) werden die Kandidaten für die eigentliche Wahl nicht hinter verschlossenen Türen bestimmt, sondern durch eine Abstimmung der Parteimitglieder – oder sogar aller registrierten Wähler.
Warum sind Vorwahlen ein Gewinn?
- Breitere Legitimation: Der gewählte Kandidat verfügt über eine größere Legitimität, da er bereits einen öffentlichen Wettbewerb überstanden hat. Er ist nicht nur der Liebling des Vorstands, sondern der Favorit der Basis.
 - Frühe Prüfung: Vorwahlen zwingen Kandidaten frühzeitig, ihre Programme öffentlich zu präsentieren und sich kritischen Fragen zu stellen. Sie sind ein wichtiger Testlauf für die spätere Hauptwahl.
 - Kampf der Ideen: Das Verfahren fördert interne Debatten und verhindert, dass Kandidaten aus internen Deals heraus ohne echten Widerstand nominiert werden. Gerade in Regionen, in denen eine Partei traditionell stark ist, würden Vorwahlen sicherstellen, dass auch der „sichere“ Kandidat zuvor einen echten Wettbewerb bestehen musste.
 
In Deutschland finden parteiinterne Abstimmungen oft nur unter Wahlkreisdelegierten statt. Eine echte, breite Vorwahl, bei der alle Parteimitglieder (oder in manchen Modellen sogar registrierte Nichtmitglieder) über die Besetzung der Listenplätze abstimmen, ist noch die Ausnahme.
3. Ein Mittel gegen die Politikverdrossenheit
Die Debatte um Offene Listen und Vorwahlen ist letztlich eine Debatte über mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung.
Kritiker des jetzigen Systems monieren oft einen Parteienstaat, in dem die Loyalität zum Parteiapparat wichtiger ist als die Loyalität zum Wähler. Offene Listen und Vorwahlen wirken diesem Gefühl der Machtlosigkeit entgegen. Sie geben dem Einzelnen das Gefühl zurück, dass seine Stimme nicht nur eine Partei wählt, sondern aktiv Einfluss darauf nimmt, welche Personen tatsächlich in die Parlamente einziehen.
Die Argumente für die Reform:
- Höhere Rechenschaftspflicht: Abgeordnete müssen sich nicht nur vor dem Parteivorstand für ihr Abstimmungsverhalten rechtfertigen, sondern auch vor ihren Wählern, wenn sie bei der nächsten Vorwahl oder der nächsten Listenwahl erneut antreten wollen.
 - Aktivierung der Basis: Die Möglichkeit, die Rangliste zu beeinflussen, kann die Wahlbeteiligung erhöhen, da die Bürger einen direkteren Einfluss auf das Personal sehen.
 - Qualität der Kandidaten: Nur jene Kandidaten, die überzeugende Arbeit leisten und öffentlich sichtbar sind, hätten eine reelle Chance, von den Wählern nach oben gewählt zu werden – unabhängig von internen Seilschaften.
 
Fazit: Die Demokratie braucht Mut zur Öffnung
Obwohl die Einführung von Vorwahlen und Offenen Listen erhebliche organisatorische Herausforderungen für die Parteien mit sich bringen würde, wäre der Gewinn für die Demokratie immens.
Sie sind ein Werkzeug, um die Distanz zwischen Wählern und Gewählten zu verringern, die Macht der Parteizentralen zu relativieren und die Rechenschaftspflicht der Politiker zu stärken. Es geht darum, nicht nur die Programme der Parteien zu wählen, sondern auch das Personal aktiv mitzugestalten.
Was denken Sie? Sollte das deutsche Wahlsystem stärker auf Offene Listen und verbindliche Vorwahlen setzen, um die Wählerbindung zu stärken? Diskutieren Sie mit uns!
